Die frühprotestantische Stadtkirche St. Stephani

Aus den Kirchenrechnungsbüchern, die seit der Einführung der Reformation in Osterwieck fast vollständig vorhanden sind, wissen wir, daß im Jahre 1552 das alte Kirchenschiff abgerissen und in der kurzen Zeit von nur 5 Jahren die heutige fünfjochige und dreischiffige Langhaushalle errichtet wurde. Die in den Kirchenbüchern dafür abgerechneten Mittel stellte zu fast 90% der Rat der Stadt zur Verfügung. Besonders gekennzeichnet wird dieser spätgotische Hallenbau, der in vielem schon den Geist der Renaissance atmet, durch seine Arkadenbögen mit Steinmetzreliefs.

Das Hauptschiff der Kirche St. Stephani, das 60 Jahre vor der Wolfenbütteler Hauptkirche Beatae Mariae Virginis entstanden ist und von dem wir annehmen dürfen, daß es deren Baumeister Paul Francke anläßlich seiner Tätigkeit in Hessen schon 1564 kennengelernt hat, ist durch die kunstvolle Ausgestaltung der Arkadenbögen über den achteckigen Pfeilern aus rotbraun geflammten Schlanstedter Sandstein eine Steinmetzkirche am Übergang von der Spätgotik zu Renaissance von besonderem Rang. Denn 300 in den zwei chornahen Arkaden in zwei oder drei Reihen angeordnete Sandsteinreliefs, von denen keines dem andern gleicht, sind eine einzigartige bisher aus keiner anderen Kirche bekannte baukünstlerische Ausstattung. Auch die schlichteren drei westlichen Arkaden wurden aus ungewöhnlich sorgfältig zubereiteten profilierten Steinen gewölbt, ihre nur an den Längsrändern kassettierten Flächen sind ein weiteres Renaissanceelement der sonst noch gotischen Arkadenbogenreihen. 

Dazu kommen an fast allen Pfeilern anstelle von Kämpfern Wappensteine sowie Wappen und Hauszeichen an den Konsolen der Pfeiler und auf den 19 Schlußsteinen des Kirchenschiffs und des Chors.

Aus vielen unterschiedlichen Reliefs mit Wappen, Hauszeichen, floralen Elementen, realistischen und stilisierten Kopf- und Tierdarstellungen, Drolerien und Phantasiegebilden aller Art hat der leitende Steinmetzmeister und vermutliche Architekt des Hauptschiffneubaus, den wir aus den Kirchenbüchern als Mester Lodenerh kennen und unter dem Steinmetzzeichen L K vermuten, an den Osterwiecker Arkaden ein ornamentales Programm von großer stilistischer, konzeptioneller und handwerklicher Geschlossenheit geschaffen, obwohl daran nach den ca. 259 bisher registrierten Zeichen zu schließen mindestens 28 Steinmetze von 1552-1557 in seiner Steinmetzhütte tätig waren. Von den wenigen namentlich bekannten ist vor allem der Osterwiecker Jacob Tetteborn zu erwähnen, der sich mit seinem Zeichen 54mal allein in der Kirche verewigt hat.

194 Wappen, Hauszeichen und Inschriften von bürgerlichen und adeligen Personen und Institutionen auf Schlußsteinen, an den Arkadenbögen und auch den Emporen der Kirche spiegeln ein einrucksvolles in noch mittelalterlichem und schon frühneuzeitlichen Selbstverständnis wurzelndes „Verewigung-" und „Repräsentationsbedürfnis" wider, allein auf den Schlußsteinen und in den Arkadenbögen dieses ersten von einer protestantischen Stadt geplanten und vollendeten größeren Kirchbaus ist das 116 mal der Fall.            

Die Fülle der Wappen ist aber mehr als nur Selbstdarstellung, denn sie bekräftigt bekenntnishaft die Aussage des zentralen Schlußsteins der 1556 gewölbten Kirche. Es ist eine frühprotestantische Wappenikonographie, die St. Stephani gleichsam zur Kirche des „Augsburger Religionsfriedens"macht. 

Denn dort steht auf Latein geschrieben:

„Dieser Eckstein ist Christus"

und zitiert werden Apostelgeschichte 4 und Epheser 2, wonach Jesus Christus der Eckstein und alleiniges Unterpfand allen Heils ist für die Bürger einer Stadt, die in der von ihr erbauten Kirche nicht mehr Gäste und Fremdlinge sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen sind.